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Ungarn verstehen?

Ungarn auf dem Sonderweg nach rechts?
Foto: Heinrich-Böll-Stiftung

30. April 2012
Wolfgang Klotz
„Während die DNS der menschlichen Rasse innerhalb einer gegebenen Länge zwei bis drei Drehungen aufweist, weist die der ungarischen Rasse neun Drehungen auf [...], was wiederum mit der Drehzahl des vom Planeten Sirius auf die Erde kommenden Lichtes identisch ist. Aus dieser Tatsache resultiert der kosmische Ursprung der ungarischen Intelligenz, der ungarischen Seele und des ungarischen Geistes und darauf ist die Auserwähltheit des ungarischen Volkes zurückzuführen“. (1) Der Autor dieser im Jahr 2000 veröffentlichten hohen These amtierte im gleichen Jahr als Staatssekretär der ersten Regierung unter Viktor Orbán.

Der renommierte ungarische Politikwissenschaftler und Europa-Abgeordnete für Viktor Orbáns Fidesz-Partei, György Schöpflin, beklagte jüngst in einem Text für die Internetseite opendemocracy.net, dass das Ausland Ungarn nicht verstehe und dass das „linke“ Ausland Ungarn auch gar nicht verstehen wolle. Bei solcher Gelegenheit muss immer das Argument des Zusammenhangs herhalten, aus dem alles willkürlich herausgerissen werde, was über Ungarn berichtet wird. Schöpflin führt dies auf auf die Wehrlosigkeit Ungarns als „einer kleinen Kultur mit einer sehr einzigartigen Sprache“ zurück, deren „Stimme per se schwächer ist als die einer großen Kultur“. Was daraus entsteht nennt er ein „diskursives Defizit“.

Was aber, so möchte man den Intellektuellen und Abgeordneten Schöpflin fragen, könnte wohl der fehlende Zusammenhang sein, in dem die eingangs zitierte DNS-Analyse auch nur den Hauch von Diskursivität und Vernunft gewinnen könnte? Welche politische Vernunft, welche sonstigen herausragenden Qualifikationen standen hinter der Ernennung des postmodernen Rassetheoretikers László Grespik zum Staatssekretär der ungarischen Republik?

Aber auf solche Fragen will uns der Europa-Abgeordnete in seinem Text keine Auskunft geben. Wie er überhaupt keine einzige konkrete Entscheidung seiner Regierung zu Hause anführt, um sie zu verteidigen, zu begründen oder uns zu erklären. Es geht ums Grundsätzliche! Auch sein Artikel steht unter dem Titel „How to understand Hungary“ – allerdings ohne Fragezeichen. Es handelt sich also eher um eine Denkanleitung für solche, die Ungarn verstehen wollen. Dazu müssen wir zuallererst anerkennen, dass das heutige Ungarn „eine zutiefst gepaltene Gesellschaft“ ist. Das wollen wir gerne tun. Besser noch, man würde sich „zwei ungarische Gesellschaften vorstellen, jede mit ihrer eigenen Idee von Wahrheit“. Das Problem aber sei, dass „die internationalen Medien nur eine Seite des Streites“ (engl: „one side of the argument“) darstellen und „nur einen der zwei Narrative wiedergeben“.

Dem ließe sich entgegenhalten, dass das Problem wohl eher darin besteht, dass die eine der zwei ungarischen Gesellschaften inzwischen auf die Form des arguments gänzlich verzichtet. Wozu auch sollte sie argumentieren, wo ihr doch die Macht gehört? Und die Macht bevorzugt eindeutig den großen Narrativ, denn der entzieht sich der schellen Kritik. Er bedarf der mühsamen Dekonstruktion.

Nur eines sollte noch geklärt werden, bevor wir uns von dieser wenig ertragreichen Anleitung zum Ungarn-Verstehen abwenden: „Niemand scheint zu bemerken“, schreibt Schöpflin, „dass die Angriffe auf die ungarische Regierung zu einer deutlichen Stärkung nicht nur von Fidesz, sondern auch der rechtsradikalen Partei Jobbik beitragen .... So much for unintended consequences.“

Wer diesen Satz nicht in Wien oder Berlin, sondern in Belgrad liest, der kennt die Warnung quasi als einen Standard-Topos der politischen Sprache: zu jedem schlechten Politiker gibt es unvermeidlich einen noch schlechteren, und wer den weniger schlechten kritisiert, arbeitet damit dem noch schlechteren in die Arme. Am Ende wird er sich noch umschauen, und wäre froh, könnte er das früher so heftig kritisierte kleinere Übel wieder zurückholen.

In Belgrad – das nur nebenbei – sind die Zebrastreifen mit einer weißen Farbe gestrichen, deren Oberfläche schon bei leichtestem Frost zu spiegelglatten Rutschstreifen wird. Daher verzeichnete die serbische Hauptstadt in den vergangenen Wochen eine extrem hohe Zahl von Knochenbrüchen an exakt jenen Orten, die doch zum Schutz der Fußgänger geschaffen wurden. Die Bewohner wurden deshalb auf ganz praktische Weise zu absoluten Kennern, was die unintended consequences politischer Entscheidungen anbelangt.

Der "Niedergang Europas"

Überhaupt scheint es so, als ob Ungarn von Süden her betrachtet sehr viel besser zu verstehen sei als aus der nord-/nordwestlichen Perspektive. Viktor Orbán selbst und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (vom 4. März 2012) haben dankenswerterweise die Anstrengung unternommen, um mit einem dreiseitigen Interview das „diskursive Defizit“ (soweit es auf unserer Seite liegt) zu beheben und uns die Narrative des ungarischen Ministerpräsidenten nahe zu bringen. Und diese Narrative gleichen denen der nationalistischen Konservativen in Serbien wie ein Ei dem anderen:

Da ist zum Ersten die Erzählung vom Niedergang Europas. Orbán: „Ich habe eine geistige Karte vor mir [und sehe] auf dieser Karte ein immer schwächeres Europa“. Dieser Niedergang Europas umfasst seine biologische Reproduktion, seine Bedeutung im Welthandel, sein eigenes „europäisches Selbstvertrauen“, seine kulturelle Dominanz über den Rest der Welt. Die Wurzel von all dem aber ist sein spiritueller Niedergang durch die Profanisierung und den Sieg des globalen Liberalismus.

Dem folgt die Erzählung von der Identität; denn es gibt andere Weltregionen und andere Kulturen, die an solchen Schwundphänomenen nicht leiden, die ganz im Gegenteil „jetzt emporkommen“: allen voran der Islam. Sie kommen empor, weil die Muslime „mutig zu ihrer geistigen Identität stehen“, während der alte Kontinent „seinen Glauben an das verloren hat, was Europa einst groß und zu einem Einflussfaktor in der Welt gemacht hat“.

Die einstige Größe Europas – so muss implizite miterzählt werden – war keineswegs ein Resultat kolonialer und imperialer Machtausübung, es war vielmehr die historische (und vielleicht auch göttliche?) Mission des Abendlandes, diese globale Führungsrolle zu übernehmen; und es wäre seine Mission auch noch heute, wenn Europa nicht selbst seinen großen Auftrag verleugnen würde.

Alles, was Viktor Orbán uns in der FAS bereitwillig über Europa erzählt, erfüllt ihn „mit außerordentlicher Sorge“. Dabei bemerkt der Ministerpräsident eines Landes, das sich immer mit größtem Stolz und trotzigster Hartnäckigkeit dagegen verwehrt hat, zum Balkan gezählt zu werden, in keinem Augenblick, wie außerordentlich balkanisch seine Rede daherkommt. All seine Erzählungen sind Reproduktionen jener alten Grundschulbücher, in denen zottelige Osmanen auf wilden Pferden für Jahrhunderte ein Joch über den Südosten des Abendlandes gelegt hatten – Jahrhunderte, in denen die Menschen in diesem Teil Europas das Joch auf sich nahmen, um Habsburg, der Kirche, dem Abendland eben dieses Joch zu ersparen.

Bis hierhin sind sich Viktor Orbán und sein ehemaliger serbischer Kollege Vojislav Koštunica in allem einig – selbst über die Grenze zwischen westlichem und östlichem Christentum hinweg. Nur hat die östliche Kirche nun – seit dem Zerfall Jugoslawiens - beschlossen, dass es endlich genug sei mit dem Opfer für ein Europa, das dieses Opfer niemals wirklich verdient habe; während der ungarische Ministerpräsident, wo er jetzt schon EU-Mitglied ist, zwangsläufig weiter für die Rettung des Abendlandes kämpft, selbst wenn er diesen Kampf heute gegen die Mehrheit des Abendlandes selbst und nicht mehr gegen die osmanischen Horden ausfechten muss. Warum?

Weil in seinen Augen die Mehrheit Europas links ist – oder zumindest liberal, womit wir beim Orbán’schen Master-Narrativ angekommen wären. Linke Nationen sind „Nationen ohne Charakter und Ambitionen“, und weil sie so sind, „vermögen [sie] die europäische Gemeinschaft nicht groß zu machen“. Das ist die Mutter aller Erzählungen, die zur Legitimation der Politik von Fidesz herhalten müssen: dass zuletzt, nach einer Verstümmelung Ungarns im Vertrag von Trianon und nach dem kurzen Intermezzo einer Republik, die sich bei genauerem Hinsehen als eine Phase jüdischer Dominanz herausstellt (2), der Kommunismus über Ungarn kam. Jetzt aber sei die Zeit gekommen, dass sich Ungarn in eine radikale Diskontinuität mit diesem Kommunismus und seinen Hinterlassenschaften setze und endlich seine nationale Identität behaupte.

Bruch mit der Geschichte

Und damit geht heute automatisch Ungarns Auftrag in der Europäischen Union einher, auch den Kampf gegen die Ausfransungen des Kommunismus in die „europäische Linke“ hinein zu führen. Das ist zugleich Orbáns persönlichste Ambition – das, was ihn zutiefst umtreibt: „Ich würde die Zerstörung der Linken gerne als eigenen Erfolg verbuchen.“

Aber es hat eine ganz besondere Bewandtnis mit dieser vermeintlichen Diskontinuität. Das lässt sich schon daran ablesen, dass die Regierungspartei im ungarischen Parlament jüngst einen Gesetzesvorschlag der oppositionellen LMP ohne Beratung ablehnte, der auf die Offenlegung der ungarischen StaSi-Akten abzielte. Zugleich aber macht sich die Regierung unter großem Pomp für einen Gedenktag stark, der den Opfern des Kommunismus gewidmet sein soll.

Was so sehr beunruhigt, ist diese (wiederum sehr den balkanischen Nachbarn verwandte) Dichotomie zwischen einer pompösen, symbolischen Inszenierung des Bruchs mit dem Kommunismus und der gleichzeitigen Verweigerung, diesen Bruch als einen notwendigen und tatsächlichen gesellschaftlichen Prozess zu ermöglichen und zu vollziehen. Psychologisch betrachtet erweist sich der Bruch mit dem fremden Kommunismus in Wirklichkeit als eine Abspaltung von durchaus eigenen Elementen des kollektiven Seelenhaushalts. Die Abspaltung vollzieht sich auf dem Feld und mit den Waffen der ideologischen Großkämpfe des europäischen 20. Jahrhunderts: hier Christentum, dort gottloser Kommunismus, hier die Nation als Kulturgemeinschaft, dort der identitätslose Internationalismus, hier abendländische Größe, dort ein östlicher Moloch…

Nur, der historische Bruch mit dem Kommunismus, den Viktor Orbán in seiner neuen ungarischen Verfassung festgeschrieben hat, geschieht auf der Grundlage einer - wenn auch tiefer liegenden - fortdauernden Kontinuität: Es ist die Kontinuität des Autoritären. Denn all die von ihm diagnostizierten Zerfallsphänomene des liberalen Europa beruhen auf einem Zerfall von Systemen der Autorität: der religiösen, der kulturellen, und folglich auch der politischen und schließlich der ökonomischen. Ohne Autorität aber gibt es keine Größe, gibt es nicht „diesen de Gaulle‘schen Luftzug, diese Glorie“, die Viktor Orbán nach eigenem Bekunden in der FAS verspürte, „als Sarkozy auf die Bühne trat“.

Es ist eine beliebte rhetorische Figur derer, die Orbáns Politik gegen ihre europäischen Kritiker verteidigen, diese ausländische Kritik in ihrer Überzogenheit zu zitieren, um sie dann zurückzuweisen: etwa den Vorwurf, dass die ungarische Regierung eine „völkische Politik“ betreibe oder von „völkisch nationalen Motiven“ geleitet werde. Dem halten sie entgegen, dass eindeutig nicht völkisch-biologisches Denken, sondern das Insistieren auf kultureller Identität Orbáns Leitmotiv sei. Aber dies sind irrelevante Streitereien im Theater der oberflächlichen Diskontinuität.

Wir haben das neunfach sich drehende ungarische Chromosom eingangs nicht zitiert, um den ungarischen Ministerpräsidenten mit seinem Staatssekretär in die gleiche Schublade zu stecken. Wir wollten nur zeigen, dass es das gibt in Ungarn (wie auch überall sonst in Europa): Leute, die so reden und das vielleicht sogar auch denken und glauben. Und dass ihnen aus der gegenwärtigen Regierung heraus nicht widersprochen wird, dass man sich in der heutigen ungarischen Gesellschaft offensichtlich nicht disqualifiziert mit solch rassischer Esoterik.

Es geht nicht um die Frage, ob Orbán einem völkischen Denken frönt oder nicht. Es geht um die Frage, ob wir sicher sein können, dass er vom völkischen Topos nicht Gebrauch machen wird, wenn sich dies zum Erhalt der Macht als taktisch notwendig erweisen wird. Es geht um die Kritik einer strategischen Arbeitsteilung mit den in der Tat völkisch denkenden von Jobbik, die es Orbán erlauben, die Fassade eines bürgerlichen Konservatismus der Mitte zu wahren.

Viktor Orbán hat ja durchaus recht damit, dass die jahrzehntelange Erfahrung des Kommunismus einer radikalen Diskontinuität bedarf. Die würde sich nicht so sehr in einzelnen inhaltlichen Positionen und politischen Meinungen ausdrücken. Die wirkliche Diskontinuität ist nur zu haben um den Preis der emanzipatorischen Anstrengung gegenüber dem Autoritären. Es ist das ungarische Problem ebenso wie das serbische und das montenegrinische, vielleicht auch das rumänische oder bulgarische, dass in all diesen Ländern das Ende des Kommunismus von zu vielen autoritär geprägten Funktionären und Jungpionieren des alten Systems in den Eliten überstanden wurde. Die können und wollen sich eine demokratische Transformation nur vorstellen, sofern sie das autoritäre Grundmuster nicht antastet. Es war leicht, vom Jungpionier zum Ministranten zu mutieren. Es ist ungleich schwerer, den entscheidenden Bruch zu vollziehen und sich von beidem zu emanzipieren.

Die Kritik an Orbáns Politik greift zu kurz, wo sie nur als Widerspruch gegen seine politischen Entscheidungen, Gesetze und Erlasse geführt wird. Diese sind schlimm genug, gewiss. Aber es geht entscheidend nicht um die Inhalte von Politik, es geht vielmehr um die Form der politischen Machtausübung. Orbán sieht sich in jeder Zeile seines FAS-Interviews in der grandiosen Rolle einer historischen Mission zur Rettung Europas. Dieser missionarischen Rolle entspricht seine politische Attitüde, dass die Macht ihm nicht eigentlich auf Zeit gegeben wurde, sondern ihm vielmehr zusteht zur Erfüllung seines historischen Auftrages. Ein seltsamer, nach eigenen Bedürfnissen zusammen gezimmerter christlich-ungarischer Glaube verlieh ihm die Macht und den Auftrag zur Rettung Ungarns und Europas vor der linken und liberalen Dekadenz. Die Wählerschaft ist dabei nur der demokratische Transmissionsriemen der Vorsehung. Ein wenig bescheidener will jemand wie Viktor Orbán es partout nicht machen.

Die inszenierte Revolution

Seltsam genug, wenn wir auf Václav Havel oder Adam Michnik und andere schauen: diejenigen, die schon gegen Kommunismus waren, als noch Kommunismus herrschte, bedurften nach seinem Ende nicht der theatralischen Inszenierung ihres Bruches mit solcher Vergangenheit.

Das New York Times Literary Supplement veröffentlichte einst eine schöne Korrespondenz zwischen dem russischen Dichter Joseph Brodsky und dem schon zum Präsidenten avancierten Václav Havel. Brodsky schrieb an Havel: „Wir haben da noch etwas gemeinsam, Herr Präsident: nämlich unsere Vergangenheit in unseren beiden Polizeistaaten. Ein wenig bescheidener: wir teilen die Erfahrung unserer Gefängnisse: diesen aufs engste begrenzten Raum, aber über die Maßen ausgestattet mit einem Überfluss an Zeit, die einen – früher oder später und unabhängig vom persönlichen Charakter – ziemlich grüberlisch werden lässt. Sie haben mehr Zeit in den tschechischen Gefängnissen verbracht als ich in den unsrigen, obwohl meine Gefängniserfahrung schon lange vor dem Prager Frühling begann. Manchmal habe ich mir in dem nach Urin stinkenden Betonloch irgendwo in den Eingeweiden Russlands so eine saubere, frisch verputzte Gefängniszelle im zivilisierten Prag ausgemalt, und auf beinahe patriotische Weise war ich mir sicher, dass man sich in Russland der Willkürlichkeit der menschlichen Existenz schneller bewusst wird als bei Ihnen“.

Das war im Mai 1993. Viktor Orbán war 30 Jahre alt und erklomm gerade die Parteispitze von Fidesz. Drei Jahre vorher hatte er mit einem Stipendium des liberalen amerikanischen Juden George Soros in Oxford studiert und Fidesz war noch eine liberale Partei. Wenn Brodsky sich schon eine Prager Gefängniszelle als relativ angenehmen Aufenthaltsort ausmalen konnte, wie erst hätte sein Bild einer Zelle in der berühmten Gulasch-Variante des Kommunismus ausgesehen? Und wie in der jugoslawischen Version, wo der Kommunismus geradezu demokratisch wirkte?

So macht uns Brodskys Korrespondenz, im heutigen Belgrad gelesen, ein seltsam dialektisches Problem deutlich: es sieht beinahe so aus, als gäbe es einen Zusammenhang zwischen der Schwierigkeit der demokratischen Transformation heute und der relativen „Weichheit“ des damaligen kommunistischen Systems.

Wo eine Gesellschaft das Ende des Kommunismus nicht als ein selbst herbeigeführtes revolutionäres Erfolgserlebnis in ihr Gedächtnis schrieb, muss diese revolutionäre Erfahrung offensichtlich inszenatorisch und theatralisch nachgeholt werden. Das ist es, was Orbáns Politik betreibt. Aber die nachgetragene Liebe zur anti-kommunistischen Revolution ist eine Heuchelei. Niemand machte das deutlicher als der ungarische Schriftsteller István Eörsi, und niemand könnte ihm, würde er noch leben, heute die Rolle des erbittertsten Kritikers von Orbáns Politik streitig machen.

Eörsi’s Narrativ erklärt den Trick des Kádár’schen Kommunismus mit Hilfe eines Bibel-Zitates: dem großen Säuberer Stalin konnte es gar nicht sauber genug in seiner Sowjetunion werden, weil er die biblische Regel bevorzugte: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“. Kádár aber drehte dies nach der 1956er Revolution in Ungarn um und regierte nach dem Prinzip: „wer nicht gegen mich ist, ist für mich“. So verwendet wirkte die Regel wie eine bestens funktionierende Dienstanweisung zum gesamtgesellschaftlichen Duckmäusertum: in der Öffentlichkeit nur brav still zu halten, solange man im Privaten umso deftiger vom Leder ziehen konnte.

Dem Rest der Welt erschien das daraus entstandene Ungarn wie die Schrebergartenkolonie des Ostblocks: „Dieses Ungarn“, schreibt Imre Kertész, „war immer der Lieblingskommunismus des Westens. Dabei war es in Wahrheit durch und durch ein Polizeistaat. In der Kádár-Zeit war von Kommunismus überhaupt keine Rede.“ Weil es so nett dort schien, sah auch niemand im Rest der Welt einen Anlass, dem Land besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Und so musste selbst ein Imre Kertész auf das Ende dieser Epoche warten und solange in seine Schublade schreiben, bis jemand sich für seine Literatur interessierte.

„Am Ende“, schreibt George Schöpflin in seinem Artikel, „wird es auf die Frage hinauslaufen, wer darüber entscheidet, was die europäischen Werte sind. Kann es der Linken allein überlassen bleiben, oder muss es nicht doch einen breiteren Konsens darüber geben?“ Es bleibt uns unerfindlich, wie man als Abgeordneter des Europäischen Parlaments zu dem Eindruck gelangen kann, dass eine – aus wem auch immer bestehende – europäische Linke eine Wertediktatur über die europäische Union ausübt. Ach, lieber Herr Schöpflin! Die Entscheidung über die europäischen Werte kann nur einer ganz und gar nicht defizitären Diskursivität überlassen bleiben. Im Augenblick scheint das diskursive Defizit freilich eher auf Seiten der ungarischen Politik zu liegen. Die will sich auf einen argumentierenden Diskurs nicht einlassen, denn dieser müsste zwangsläufig offen sein, um diese Bezeichnung zu verdienen.

Viktor Orbáns Werte, die er uns in seiner Politik und in seinem Interview präsentiert, wollen aber gar nicht durch Diskursivität gefunden werden. Sie sind einfach da und verlangen danach, respektiert zu werden. Denn schließlich muss ja eine Ordnung sein.

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Fußnoten:

(1) Grespik, László: Szkíták törvénye, 1-3 rész (Das Gesetz der Skythen, Teil 1-3), in: Magyar Demokrata, (Ungarischer Demokrat / rechts-konservative, gesellschaftskritisch-kulturelle Wochenzeitschrift) 23. und 30. Dezember 1999 und 06. Januar 2000. Übersetzung der Zitate übernommen von Magdalena Marsovszky (http://eipcp.net/transversal/1100/marsovszky/de)
(2) „Es gibt viele Länder auf der Welt, in denen die Mehrheit die Minderheit unterdrückt, aber nur ein Land, in dem es die Minderheit mit der Mehrheit tut, und das ist Ungarn. In Ungarn knebelt, verspottet und erdrückt eine die ungarische Nation und das Christentum hassende Minderheit nunmehr seit fünf Jahrzehnten die Mehrheit“.“ (Der Journalist István Lovas auf einer Kundgebung in Budapest im Januar 2004)

Wolfgang Klotz

Wolfgang Klotz leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Belgrad.

Dossier: Focus on Hungary

Der Text "Ungarn verstehen" ist Teil unseres umfangreichen englischsprachigen Dossiers "Focus on Hungary". Dieses liefert Kommentare und Hintergrundberichte zur aktuellen politischen Situation in Ungarn in Form von Text- und Videobeiträgen. Schwerpunkte liegen dabei auf der kritischen Analyse des "Systems Orbán", sowie auf der Frage nach dem Verhältnis zwischen der EU und ihrem Mitgliedstaat. Darüber hinaus sollen durch das Dossier all jene Akteure sichtbar gemacht werden, die sich für einen demokratischen Wandel im Land einsetzen.